Vorwort zur 2. Auflage

Geschätzte Leserin, geschätzter Leser,

dieses Vorwort zur zweiten Auflage des Fachbuchs soll gleichzeitig als ein kleiner „Anwendungshinweis“ dienen, der im Idealfall einen erleichterten Zugang zum im Folgenden behandelten Thema der Haftung bei Hygienefehlern ermöglichen soll.

Nachdem die erste Auflage des Fachbuchs im Jahr 2012 von Herrn Rechtsanwalt Matthias Herberg erstellt worden ist, geht nun, mehr als zehn Jahre später, mit der zweiten Auflage des Behr’s Fachbuchs Haftung bei Hygienefehlern im Gesundheitswesen ein Wechsel des Bearbeiters einher.

Das Fachbuch richtet sich weiterhin vor allem an Praktiker in Gesundheitsberufen, die einen schnellen Zugriff und ein grundlegendes Verständnis für die Zusammenhänge zwischen Hygieneanforderungen und Haftungsfragen im Kontext der Behandlung von Patienten gewinnen wollen. Hierzu sollen grundlegende Verbindungen zwischen Hygienevorgaben in öffentlich-rechtlichen Vorschriften und fachlichen Leitlinien einerseits und einer zivilrechtlichen Haftung für Hygienefehler andererseits aufgezeigt und abschließend mit Präzedenzfällen aus der Rechtsprechung hinterlegt werden.

Seit dem Veröffentlichungszeitpunkt der ersten Auflage hat eine erhebliche Institutionalisierung und Formalisierung der Hygieneorganisation stattgefunden. Etwa die Aufwertung der KRINKO1-Empfehlungen mit der Reform des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) im Jahr 2011 und die seither zu verzeichnende umfangreiche Aktivität des ehrenamtlichen Gremiums haben dazu geführt, dass allein der Umfang der Empfehlungen der KRINKO zu Fragen der Hygiene in den vergangenen zehn Jahren erheblich zugenommen hat. Mittlerweile listet das RKI auf seiner Internetseite 26 aktuell gültige KRINKO-Empfehlungen mit, je nach Veröffentlichungsdatum, in der Tendenz zunehmendem Seitenumfang und Detaillierungsgrad der enthaltenen Maßnahmenempfehlungen auf. Seitenwechsel

Das Patientenrechte­gesetz 20132 brachte zahlreiche rechtliche Neuregelungen, die die Sicherung angemessener Behandlungsstandards und die Kodifikation von Patientenrechten im Blick hatten. Patientenrechte, die sich im Laufe der Jahre größtenteils durch die Rechtsprechung im Arzthaftungsrecht als Richterrecht herauskristallisiert hatten, wurden durch Einführung der §§ 630a bis 630h in das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) gesetzlich geregelt. Hierdurch sollte die Rechtslage eindeutiger und überschaubarer werden und die Patientenrechte eine Stärkung erfahren3. Die einhergehenden Änderungen im Sozialgesetzbuch – Fünftes Buch (SGB V), insbesondere in den §§ 135a ff. SGB V, haben u. a. Vertragsärzte, medizinische Versorgungszentren, Krankenhäuser, Erbringer von Vorsorgeleistungen oder Rehabilitationsmaßnahmen und Einrichtungen zur Einrichtung und Pflege eines internen Qualitätsmanagements sowie eines darin enthaltenen Risikomanagements verpflichtet. Die Anforderungen werden durch Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) zur Qualitätssicherung ausgestaltet, die der G-BA entsprechend seiner Konkretisierungspflicht aus §§ 136 und 136a SGB-V festgelegt hat.

Diese Entwicklungen können für die Konzeption eines an Praktiker gerichteten „Arbeitshandbuchs“, das einen schnellen ersten Zugriff ermöglichen soll, nicht ohne Folge bleiben. Hygiene-Compliance ist ein Prozess und ein fortlaufendes, nicht abgeschlossenes Projekt. Bereits der durch den Gesetzgeber noch zentral im Infektionsschutz­gesetz angeordnete Sorgfaltsmaßstab (§ 23 Abs. 3, 1 IfSG) ist ein dynamischer, der den jeweils aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft zum einzuhaltenden Standard in der Versorgung erhebt. Für den zivilrechtlichen Haftungsmaßstab gilt im Ergebnis nichts anderes. Vorgaben für die Hygienepraxis entwickeln sich entsprechend ununterbrochen weiter und gewinnen an Regelungsumfang und -dichte.

Mit der vorliegenden zweiten Auflage des Fachbuchs soll entsprechend nicht der Versuch unternommen werden, eine Zusammenfassung aller zum Zeitpunkt der Veröffentlichung maßgeblichen Erkenntnisse zu nosokomialen Infektionen und ihrer Verhütung zu erstellen, nebst der aus Seitenwechsel rechtlicher Sicht zwingend einzuhaltenden Hygienestandards. Ein solcher Ansatz würde beinahe unvermeidlich den Eindruck einer Abgeschlossenheit in sich tragen, die tatsächlich keineswegs gegeben ist; er käme zudem nicht ohne erhebliche Verkürzungen aus und wäre innerhalb kurzer Zeit inhaltlich überholt.

Für entsprechende medizinische und fachwissenschaftliche Inhalte sind jeweils unmittelbar die einschlägigen medizinisch-fachlichen Leitlinien, Richtlinien und Empfehlungen zu konsultieren. Zwar sind gerade medizinische Leitlinien4 nicht gleichzusetzen mit dem medizinischen Standard. Ihnen kommt jedoch eine Indizfunktion für den gegenwärtigen zu erbringenden medizinisch-fachlichen „Standard“ zu, die die heilberuflichen Akteure dazu zwingt, jeweils einschlägige Leitlinien wahrzunehmen und sich mit ihnen auseinander zu setzen5.

Qualitativ hochwertige Leitlinien und die moderne medizinische Standardbildung insgesamt folgen den methodischen Grundsätzen der Evidenzbasierten Medizin (EbM). Zu den Grundcharakteristika der EbM zählen, wie ihr prominenter Wegbereiter David L. Sackett festgehalten hat, „the conscientious, explicit and judicious use of current best evidence in making decisions about the care of individual patients. The practice of evidence-based medicine means integrating individual clinical expertise with the best available external clinical evidence from systematic research.”6 Die beste externe klinische Evidenz umfasst dabei die aktuelle wissenschaftliche Forschung, klinische Studien sowie einschlägige Literatur.

Den in Heilberufen Tätigen kann es folglich nicht erspart bleiben, sich mit den für ihre jeweiligen Tätigkeiten einschlägigen fachlichen Leitlinien, Richtlinien und Empfehlungen (etwa der KRINKO) und den darin wiedergegebenen Anforderungen und Methoden – jeweils auf aktuellem Stand – auseinanderzusetzen und sich die dafür erforderlichen ak Seitenwechsel tuellen Informationen zu verschaffen. Eine unmittelbare Auseinandersetzung mit den aktuellen fachlichen Standards ist unabdingbar!

Als praxisgerechter Ansatz für ein Fachbuch erscheint es daher aus heutiger Sicht, rechtliche Mechanismen der Haftung für Verletzungen von Hygienestandards aufzuzeigen – hinsichtlich medizinisch-fachlicher Inhalte und Anforderungen zur Gewährleistung einer standardgerechten Hygienepraxis aber konsequent auf in Frage kommende medizinischfachliche Quellen zu verweisen, statt deren aktuellen status quo abzudrucken und dadurch zu konservieren.

Zumindest nicht gänzlich unerwähnt bleiben soll letztlich noch, dass, bei aller Fortentwicklung verbindlicher Qualitätsstandards, Rufe aus der Praxis der Gesundheitsberufe immer lauter werden, wonach einhergehende administrative Belastungen insbesondere zur Behandlungsdokumentation (aber auch zur Dokumentation von standardgerechten Strukturen innerhalb der Einrichtungen des Gesundheitswesens!) überhandnehmen und zunehmend sogar negative Auswirkungen auf die Qualitätssicherung haben könnten7. Gerade angesichts des zu erlebenden demographischen Wandels und der akuten Personalnot im Gesundheitswesen8 ist dieses Problem beträchtlich. Auch könnten sich in Zukunft stärkere Spannungen um die Finanzierung immer höherer Hygienestandards ergeben und zu einem Auseinanderfallen von medizinischem Standard und zivilrechtlichem Sorgfaltsmaßstab auf der einen Seite und dem sozialrechtlich garantierten Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) auf der anderen Seite ergeben. Folge könnte sein, dass Behandler haftungsrechtlich zur Einhaltung von Standards verpflichtet wären, die sie tatsächlich aufgrund Personalmangels nicht erfüllen könnten – oder aber aufgrund von sozialrechtlichen Leistungsbeschränkungen des SGB V zumindest nicht zu Lasten der GKV abrechnen könnten.9 Diesen Fragen kann im Rahmen dieses einführen Seitenwechsel den Fachbuchs nicht weiter nachgegangen werden und sie haben – zumindest in der Rechtsprechungspraxis – nach Kenntnis des Autors bisher noch keine praktische Rolle gespielt, da bisher ein zumindest weitgehender Gleichlauf10 sozial- und haftungsrechtlicher Vorgaben besteht.

Nach langer Vorrede hoffe ich, Ihnen mit dem Fachbuch einen guten Überblick über die maßgeblichen Zusammenhänge rund um die Haftung bei Hygienefehlern geben zu können. Sämtliche Internetquellen wurden zuletzt abgerufen am 24.01.2023.

Hamburg und Tönning, im Januar 2023 Seitenwechsel


1

Ehemals. „Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention“, seit der jüngsten Reform des IfSG vom 16.09.2022: „Kommission für Infektionsprävention in medizinischen Einrichtungen und in Einrichtungen und Unternehmen der Pflege und Eingliederungshilfe“.

2

Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten vom 20. Februar 2013, BGBl. I S. 277.

3

Vgl. Gesetzesbegründung der Bundesregierung zum Patientenrechte­gesetz 2013, BT-Drs. 17/10488.

4

Etwas anderes dürfte für Anforderungen an (Behandlungs-)Standards in sozialrechtlichen Richtlinien gelten.

5

Frahm et al., „Medizin und Standard – Verwerfungen und Perspektiven, Ergebnisse einer interdisziplinären Expertengruppe“, MedR 2018, 447, 450 f.

6

Sacett, et. al, „Evidence based medicine: what it is and what it isn’t“, BMJ 1996; Jg. 312, S. 71.

7

Vgl. nur jüngste Beschlussanträge auf dem 126. Bundesärztetag im Mai 2022, Beschlussprotokoll S. 103 f., abrufbar auf https://www.bundesaerztekammer.de/.

8

Vgl. „Personalmangel größtes Problem im Gesundheitswesen“, https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/138045/Personalmangel-groesstes-Problem-im-Gesundheitswesen, zuletzt abgerufen am 08.01.2023.

9

Umfangreich in die Problematik einführend: Frahm et al., „Medizin und Standard – Verwerfungen und Perspektiven, Ergebnisse einer interdisziplinären Expertengruppe“, MedR 2018, 447, 452 ff.

10

Hart, „Kongruenz und Kontinuität in der Entwicklung von Medizin und Medizinrecht – Evidenzbasierte Medizin, gemeinsame Entscheidungsfindung, Sicherheit“, MedR 2015, 1, 8.