April 2020

Wenn jemand eine Reise tut

Tobias Teufer

April 2020. In Zeiten globaler Handelswege haben wir uns daran gewöhnt, dass Lebensmittel und Lebensmittelzutaten aus aller Herren Länder in unsere Supermarktregale gelangen. Nicht so bekannt war wohl bislang, dass manche Gewächse auch schon vor der Ernte als Lebensmittel auf Reisen gehen – mitsamt der „Scholle“, auf der sie stehen.

Bekannt geworden ist das durch ein Verfahren zur Herkunftsangabe von Champignons, das auch selbst auf eine abenteuerliche Reise gegangen ist, erst bis zum Karlsruher Bundesgerichtshof und dann nach Luxemburg zum Gerichtshof der EU (Urteil vom 4.9.2019, Rs. C-686/17). Auf der im Supermarkt erhältlichen Champignonpackung war als gesetzlich vorgeschriebene Ursprungsangabe „Deutschland“ zu lesen. Tatsächlich wurden die Champignons jedoch in Belgien und den Niederlanden herangezogen, kamen auf LKW transportiert mit ihrem Substrat ca. 3-10 Tage vor der Ernte nach Deutschland und wurden dann in Deutschland vom Substrat getrennt, gesäubert, verpackt und als „deutsche Champignons“ angeboten.

Die Wettbewerbszentrale sah hierin eine Verbrauchertäuschung und nahm das betroffene Unternehmen auf Unterlassung in Anspruch. Auch wenn es sich bei der Ursprungsbezeichnung „Deutschland“ um eine Pflichtangabe handele, könne eine Irreführung des Verbrauchers nur dadurch vermieden werden, dass zusätzlich aktiv auf die Aufzucht in Belgien und den Niederlanden hingewiesen werde. Anderenfalls müsse der maßgebliche Durchschnittsverbraucher davon ausgehen, dass alle wesentlichen Schritte der Erzeugung in Deutschland stattgefunden haben.

Der BGH hatte dem EuGH zur Vorbereitung seiner Entscheidung des Falls verschiedene Fragen vorgelegt, die eine verbindliche Auslegung des EU-Rechts betreffen. Im Wesentlichen ging es darum zu klären, ob für die Bestimmung des zwingend anzugebenden Ursprungslandes der Champignons das EU-Zollrecht maßgeblich ist, ob das allgemeine lebensmittelrechtliche Irreführungsverbot aus Art. 7 Abs. 1 Buchst. a) der Lebensmittelinformations-Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 (LMIV) daneben Anwendung findet und ob eine Pflicht oder zumindest eine Möglichkeit besteht, die zwingende Angabe des Ursprungslandes mit ergänzenden Hinweisen zu versehen.

Der EuGH beantwortete die Fragen in der guten Tradition eines förmlich handelnden Grenzbeamten oder Zöllners mit Hilfe einer streng formalen Herangehensweise und entsprechenden Argumenten. Aus den Verweisen des EU-Marktordnungsrechts mit der Verpflichtung zur Angabe des Ursprungslandes auf das EUZollrecht leitete der Gerichtshof zunächst die vorrangige Geltung der zollrechtlichen Bestimmungen ab, die aufgrund ihrer ganz anderen Ausrichtung häufig deutlich vom lebensmittelrechtlichen Verständnis konkreter Sachverhalte abweichen. Im EU-Zollrecht arbeitete sich der EuGH dann systematisch bis zu dem Grundsatz vor, dass als Ursprungsort von Gemüse (zu dem der Gerichtshof die Pilze zählte) ausschließlich der Ort der Ernte gilt. Es kommt also nicht darauf an, ob weitere wesentliche Erzeugungs- oder Herstellungsschritte in anderen Ländern stattgefunden haben. Konsequenz dieser formalen Argumentation war natürlich, dass Deutschland als Ursprungsort der betroffenen Kulturchampignons anzusehen ist.

Dieses Ergebnis war aufgrund des systematischen Zusammenhangs zwischen dem EU-Marktordnungsrecht und dem Zollrecht im Grunde vorauszusehen. Spannend wurde es jedoch bei der Frage, ob es trotz der Pflichtangabe zum Ursprungsort Raum für die Anwendung des Irreführungsverbotes gibt. Das hat der EuGH mit gut nachvollziehbaren Gründen verneint. Im Mittelpunkt stand dabei der Gedanke der Kohärenz. Wenn der Gesetzgeber einerseits die Angabe eines bestimmten Ursprungsortes vorschreibt, wäre es widersinnig, über den Gedanken der Irreführung eine Richtig- oder Klarstellung dieser Angabe zu fordern. In Konstellationen wie hier entsteht folglich eine gesetzlich vorbestimmte Irreführungsgefahr, die der Gesetzgeber mit ausdrücklicher Bestätigung des EuGH für akzeptabel hält. Die gesetzlich angeordnete Ursprungsbezeichnung geht der Anwendung des allgemeinen Irreführungsverbotes folglich vor und sperrt sie. Etwas anderes kann lediglich dann gelten, wenn eine freiwillige Herkunftswerbung über die Reichweite der Pflichtangabe hinausgeht. Im konkreten Fall hätte das Irreführungsverbot aus Art. 7 Abs. 1 Buchst. a) LMIV also greifen können, falls das Unternehmen neben der Angabe „Ursprung Deutschland“ noch Werbeangaben zu einer vollständigen Aufzucht der Champignons in Deutschland verwendet hätte.

Aber damit ist der Reisebericht noch nicht abgeschlossen. Schließlich heißt es „Wenn jemand eine Reise tut, hat er viel zu erzählen“. Die Entscheidung des EuGH ist nicht nur interessant für die Reichweite der herkunftsbezogenen Pflichtangaben bei Obst und Gemüse (näher dazu unter II.2.8. in diesem Handbuch) und das Verhältnis zum allgemeinen Irreführungsverbot (näher zur Anwendung des Irreführungsverbots auf Herkunftswerbung unter III.3. in diesem Handbuch).

Gerade für den zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Textes unmittelbar bevorstehenden Geltungsbeginn von Art. 26 Abs. 3 LMIV und der Durchführungs­verordnung (EU) 2018/775 am 1.4.2020 berührt das Urteil des EuGH interessante Themen. Denn bei der von Art. 26 Abs. 3 LMIV geforderten Bestimmung des Ursprungslandes oder Herkunftsortes primärer Zutaten kommt über den Begriff des Ursprungslandes ebenfalls das EU-Zollrecht ins Spiel. Dessen vom EuGH soeben in Sachen „Kulturchampignons“ bestätigte Reichweite kann auch auf Basis von Art. 26 Abs. 3 LMIV zu Ergebnissen führen, die vom allgemeinen Verbraucherverständnis abweichen. Kritisch zu sehen sind folglich einige Ausführungen der EU-Kommission in dem jüngst veröffentlichten Leitfaden zur Anwendung der Durchführungs­verordnung (EU) 2018/775 (siehe unter A.I.1.8 in diesem Handbuch), die ausdrücklich auf das Verbraucherverständnis Bezug nehmen.

Sie sehen: Bei den Herkunftsangaben für Lebensmittel ist die Reise noch lange nicht zu Ende. Zahlreiche Abenteuer warten noch auf uns. Mehr dazu in dieser und in den kommenden Ergänzungslieferungen Ihres Handbuchs bzw. Ihres Onlinemoduls.