April 2021

Punkten mit dem Nutri-Score?

Martin Holle

April 2021. Der im November 2020 in Kraft getretene § 4a der Lebensmittelinformations- Durchführungs­verordnung (LMIDV) ist gleich in zweifacher Hinsicht ungewöhnlich. Zum einen gestattet er qua hoheitlicher Anordnung die freiwillige Verwendung eines interpretativen Systems zur Nährwertkennzeichnung, an dessen Vereinbarkeit mit Art. 35 LMIV und den Vorgaben der Verordnung über nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben das Landgericht Hamburg durchaus gewichtige Zweifel geäußert hatte. Zum anderen werden Vorgaben und Maßnahmen, die eine dem französischen Gesundheitsministerium unterstehende Körperschaft des öffentlichen Rechts erlässt, über den Weg des Markenrechts auf unternehmerische Tätigkeiten in Deutschland erstreckt. Eine solche dynamische Verweisung auf Regelungen eines anderen Staates wäre bei einer allgemeinen Verpflichtung zur Anbringung des Nutri-Scores verfassungsrechtlich problematisch. Aber auch bei der freiwilligen Nutzung stellt sich die Frage, auf welchem Wege betroffene Unternehmen Rechtsschutz erlangen können, wenn die französischen Behörden die Kriterien des Nutri-Scores nachträglich so überarbeiten sollten, dass bisher konforme Produkte zukünftig nicht mehr zur Verwendung berechtigt sind. Durch das grundsätzlich geltende „ganz oder gar nicht“-Prinzip“ können die Folgen solcher Änderungen erheblich sein, da ein Hersteller bereits dann nicht mehr zur Nutzung des Nutri-Scores für sämtliche unter seiner Marke vertriebenen Produkte berechtigt ist, wenn nur eines dieser Produkte die Anforderungen nicht (mehr) erfüllt. Das damit verbundene wirtschaftliche Risiko dürfte nach der derzeitigen Ausgestaltung des Systems letztlich beim Verwender liegen.

Der Nutri-Score wendet sich zudem primär an die Hersteller von vorverpackten Lebensmitteln. Zwar ist seine Nutzung für lose Ware prinzipiell nicht ausgeschlossen. Da es jedoch seitens der Santé publique France als Markeninhaberin an konkreten Vorgaben zur Verwendung bei dieser Produktgruppe fehlt, gehen Nutzer auch hier unter Umständen ein hohes Risiko ein, wenn sie den Nutri-Score in einer bestimmten Form anbringen und sich diese Vorgehensweise dann im Nachhinein als nicht akzeptabel erweist. Auf frischem Obst und Gemüse dürfte der Nutri-Score daher weniger zu finden sein, auf Smoothies oder Säften dagegen schon. Ob dies immer der eigentlichen Absicht des Systems dient, Verbraucher zum Kauf von Lebensmitteln mit einer günstigeren Nährstoffzusammensetzung zu bewegen, kann man in diesem Zusammenhang sicherlich kritisch hinterfragen. Ähnliches gilt für die seitens der französischen Behörde nicht empfohlene Verwendung auf Lebensmitteln für besondere Ernährungsbedürfnisse im Sinne der VO (EU) Nr. 609/2013. Dadurch ist im Markt die Situation denkbar, dass Produkte, die auf die besonderen Bedürfnisse von Kindern abgestimmt sind, wie Folgenahrung und Beikost, mit Lebensmitteln des allgemeinen Verzehrs im Wettbewerb stehen, die über einen positiven Nutri-Score eine günstige Nährstoffzusammensetzung indizieren, aber für die besonderen Bedürfnisse von Kleinkindern möglicherweise weniger gut geeignet sind. Der komplizierte Verrechnungsmodus von eher ungünstigen Nährstoffen mit den als günstig qualifizierten Ballaststoffen und Proteinen sowie den Lebensmittelgruppen Obst, Gemüse, Hülsenfrüchte, Nüsse, Walnuss-, Raps- und Olivenöl tut ein Übriges, dass die errechneten Ergebnisse nicht immer das widerspiegeln, was nach den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung eigentlich zu erwarten wäre. Letztlich steckt im Nutri-Score eben auch ein Stück französische Agrarpolitik. Hier wäre ein maßvolles Nachsteuern des deutschen Verordnungsgebers zur Berücksichtigung der nationalen Verzehrgewohnheiten in Deutschland wünschenswert.

Welche praktische Bedeutung der Nutri-Score als Instrument der Verbraucherinformation erlangt, hängt in erheblichem Maße auch von seiner Verbreitung im Handel ab. Der Lebensmitteleinzelhandel als Vertreiber von Lebensmitteln darf den Nutri-Score in seiner Kommunikation verwenden, wenn er entweder die Zustimmung des Markeninhabers oder Lizenznehmers des vermarkteten Produkts besitzt oder wenn der Rechtsinhaber nicht innerhalb von drei Monaten auf eine entsprechende Nutzungsanfrage geantwortet hat. Schweigen gilt hier, wie sonst unter Kaufleuten ebenfalls üblich, als Zustimmung. Inwieweit Einzelhandelsunternehmen den Nutri-Score tatsächlich als Gelegenheit zur Positionierung als gesundheitsbewusster Anbieter nutzen werden, wird wesentlich davon abhängen, welche Relevanz die Verbraucher diesem Kennzeichnungsmodell bei ihrer Kaufentscheidung zumessen werden. Sollte es seine Eignung zur Absatzförderung unter Beweis stellen, könnte ein erheblicher wirtschaftlicher Druck seitens des Handels auf die Hersteller entstehen, ihr Portfolio „Nutri-Score-freundlicher“ zu gestalten. Das ist wohl auch die Hoffnung der französischen und deutschen Gesundheitspolitiker.

Ob sich die an den Nutri-Score geknüpften Hoffnungen oder Befürchtungen tatsächlich realisieren, wird der Praxistest im Markt zeigen. Und wer am Ende beim Verbraucher punkten kann, bleibt abzuwarten.