Die apokalyptischen Reiter der Menschheit Hunger und Krieg, von denen wir glaubten, sie in das Schattenreich der Vergangenheit verbannt zu haben, erheben wieder ihr Haupt. Klimawandel und der Krieg in der Ukraine sind nur die aktuellen Ursachen.
Alles wird teurer, die Preise schießen in die Höhe, der Preis für eine Tonne Reis hat sich verdoppelt. Bei Mais und Gerste sieht es nicht besser aus. In den USA führt eine anhaltende Trockenheit zu Ernteausfällen. Die größten Probleme werden die Länder haben, die das Geld für eine ausreichende Nahrungsmittelversorgung für ihre Bevölkerung nicht haben. Hinzukommen Ausfuhrverbote. Ungarn und Indien haben die Ausfuhr von Getreide bereits verboten, Indonesien will kein Palmöl mehr liefern. Es sind bekannte Bilder, die allerdings in Vergessenheit geraten sind.
Als im Sommer 1816 Ost-, Mittel- und Westdeutschland von einer Hungersnot
ergriffen wurde, drei Monate der Landregen vom Himmel geströmt war und die Erde
vernichtet hatte, waren Hilfslieferungen kaum möglich, weil die wenigen
Landstraßen vom Krieg verwüstet waren, sodass die Getreidezufuhr aus weiter
Entfernung unmöglich war und die Hilfslieferungen im Schlamm versanken. Die
Hungerskatastrophe war unabwendbar, weil Österreich und Bayern Getreideausfuhren
verboten. Diese Konstellation, nämlich Missernten, Zerstörung der Handelswege
durch Kriege und das Zurückhalten von Hilfslieferungen aus politischen Gründen
bildeten den wirklichen Kern für die Ernährungsprobleme der Bevölkerung in allen
Zeitaltern. Am Verlauf der französischen Revolution lässt sich ermessen, dass es
nahezu ausschließlich von der Lebensmittelversorgung abhängt, ob in Krisenzeiten
die Bevölkerung zu den Waffen greift oder nicht. Alles hing vom Umlauf des
Getreides ab.
Heinrich von Treitschke hat in seiner deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert darüber geschrieben „dann brach über ganz Deutschland einer jener schwerer Teuerungszeiten heraus, welche in der Geschichte fast regelmäßig den Revolutionen vorausgehen. Jeder Bundesstaat handelte auf eigene Faust. Am klügsten das Königreich Sachsen, das die Ausfuhrverbote der Österreichischen Nachbarn nicht erwiderte, sondern mit mäßigen Getreideeinkäufen und einer sehr milden Beaufsichtigung des Bäckergewerbes leidlich auskam. Hier allein blieb die Ruhe ganz ungestört“.
Auch die ersten Jahre nach dem 2. Weltkrieg waren von Not und Hunger geprägt. Der
Weltkrieg hatte die Nahrungsmittelproduktion in Deutschland schwer getroffen. Aber
die Zeiten wurden besser. Die Wohlstandsgesellschaft erblühte und nun geschah
etwas Unerwartetes. Die Landwirtschaft wurde immer mehr als Umschlagplatz für
Gifte, die das Leben von Pflanzen, Tieren und Menschen bedrohen, angesehen. Die
Lebensmittel wurden zunehmend als „Lebensgefährdungsmittel“ nämlich als Träger von
Schadstoffen, Giften aller Art und als Ursache von Zivilisationskrankheiten wie
Übergewicht und Allergien diskreditiert. Die Modernisierungsrisiken der
Nahrungsmittelproduktion so hieß es, würden eine besondere Gefährdung darstellen
und hätten erheblichen Anteil an der globalen Bedrohung der Menschen. Diese seien
zwar nicht länger verarmt, sondern lebten wohlhabend in einer Gesellschaft des
Massenkonsums und des Überflusses. Sie seien auch gut gebildet und informiert aber
hätten Angst und fühlten sich bedroht. Der Soziologe Ulrich Beck hat in seiner
einflussreichen Schrift „Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne“
die These aufgestellt: „Es handelt sich bei der Risikogesellschaft um eine Form
der Verelendung, die vergleichbar und doch auch wiederum überhaupt nicht
vergleichbar ist mit der Verelendung der Arbeitermassen in den Zentren der
Frühindustrialisierung.“ Die treibende Kraft in der Klassengesellschaft lässt sich
in den Satz fassen: ich habe Hunger, die Bewegung, die mit der Risikogesellschaft
in Gang gesetzt wird, kommt dem gegenüber in der Aussage zum Ausdruck: ich habe
Angst. An die Stelle der Gemeinsamkeit der Not trete die Gemeinsamkeit der Angst.
Welch eine Verblendung materielle Not und Angst als verschiedene
Die Zeiten ändern sich und man wird bald befürchten, dass nicht der volle Kühlschrank, sondern der leere Teller zur Gefahr werden könnte. Die ständig wachsenden Menschenschlangen vor den Lebensmitteltafeln sind dafür ein deutliches Zeichen. Es ist also an der Zeit, sich mit dem Recht auf ausreichende Nahrung zu befassen, wie dies in Art. 11. Abs. 1 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte der Vereinten Nationen vom 19. Dezember 1966 festgelegt ist. Dort heißt es: Die Vertragsstaaten erkennen das Recht eines jeden auf einen angemessenen Lebensstandard für sich und seine Familie an, einschließlich ausreichender Ernährung, Bekleidung und Unterbringung sowie auch stetige Verbesserung der Lebensbedingungen. Nach Art. 11 Abs. 2 der Konvention sollen in Anerkennung des grundlegenden Rechtes eines jeden, vor Hunger geschützt zu sein, die Vertragsstaaten einzeln und im Wege internationaler Zusammenarbeit die erforderlichen Maßnahmen einschließlich besonderer Programme durchführen. Es besteht also eine sozialstaatliche Rechtspflicht, auch nach Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, die Bevölkerung, aber nicht nur diese, insgesamt vor Hunger zu schützen. Man kann nicht eine globale Klimapolitik fordern, aber gleichzeitig die globalen Hungerkrisen außer Acht lassen wollen.
Lebensmittelrecht ist also mehr als nur gesundheitlicher Verbraucherschutz. Die Lebensmittelsicherheit muss die ganze Ernährung im Blickfeld haben und dazu gehört auch die Nahrungssicherheit für alle Menschen und nicht nur für die Konsumenten, also für all diejenigen, die über genug Einkommen verfügen, um Lebensmittel kaufen zu können. Das Lebensmittelrecht besteht aus zwei Säulen: Food Safety und Food Security, wie es im englischen Recht heißt.
Es ist nur 70 Jahre her, dass in den evangelischen Kirchengemeinden das Lied: „Brich den hungrigen dein Brot, du hast’s auch empfangen. Denen, die in Angst und Not, stille Angst und Bangen.“ gesungen wurde. Das war 1953.
Das haben wir in unserer Wohlstandsgesellschaft verdrängt und vergessen.