Vorwort

A. Müller

Alle 214 Sekunden wird im Internet irgendetwas zu „Food Fraud“ veröffentlicht. Klar, Duplikate und Plagiate zählen Suchmaschinen erst einmal mit. Eine Suche nach „Food Fraud Praxisleitfaden“ liefert immerhin noch einige Tausend Treffer allein im deutschsprachigen Teil des Internet-Universums. Gibt es irgendetwas zum Thema Food Fraud, das noch nicht gesagt, geschrieben oder vorgetragen wurde? Braucht es in dieser Landschaft denn wirklich noch einen Praxisleitfaden? Ja! Mehr Kontext? Gerne!

Fast alle publizierten und in weiten Teilen auch frei verfügbaren „Leitfäden“ stellen auf (mindestens) einen der omnipräsenten Standards ab oder werden sogar von den Standardgebern selbst herausgegeben. Diese Standards sind ohne Zweifel gut durchdacht, hilfreich und für eine harmonisierte Sicherheitsbewertung von Systemen und Zulieferern sogar nahezu unverzichtbar. Allerdings fokussieren die einander in der Architektur der Abwehr ähnlichen Standards auf Prozesssicherheit. Für die Sicherheit der Produkte selbst sind dann natürlich Labore „zuständig“ mit Tausenden analytischen Methoden, die so lange Namen haben, dass nur noch Abkürzungen verwendet werden und die sich hinter dem Begriff „Entdeckenswahrscheinlichkeit“ verstecken. Ist hiermit das Spektrum der Risiken so gut abgedeckt, dass Abwehr- und Präventionsmaßnahmen lückenlos greifen? Rhetorische Frage: natürlich ist die Antwort „nein“. Eine, wenn nicht sogar die wesentliche Risikodimension wird systematisch übersehen. Schade eigentlich.

Der Autor führt überwiegend Risiko-Audits durch. „Food Fraud“ führt die Statistik mit 160 gelösten Fällen an (das sind übrigens mehr als beim erfolgreichsten Tatort-Ermittlerduo Batic und Leitmayr). Abgesehen von einem kleinen Anteil an wiederkehrenden Praktiken wie Fremdzuckerzusatz, Verwendung von zusätzlichen Farbstoffen, „frischem“ Haselnussmehl mit Röstnote (wegen der sonst wahrnehmbaren Ranzigkeit) schleicht sich der Großteil der Fälle durch die Verteidigungslinien der standardkonformen „Bekämpfung von Produktbetrug“ und giert nach forensischer Aufklärung trotz Audit-Scores nahe der Perfektionsgrenze von 100 % und hoher Disziplin bei der Anwendung. Nanu?

Täter sind eben nicht nur geldgierig, sondern durchaus auch sehr differenziert clever. Bei näherer Betrachtung verwundert es daher nicht, dass Täter gezielt nach Lücken im System suchen und das auch können, sich auf starre Abwehrarchitekturen selbstbewusst einstellen, Laboranalytik und Beurteilungskriterien geschickt für die eigenen unlauteren Machenschaften nutzen. Mitunter ist „Food Fraud“ auch kriminelle Dienstleistung in einem größeren kriminellen Kontext. Und wäre das nicht genug: 40 % der Einsätze des Autors finden im auftraggebenden Unternehmen statt. Die eigene Integrität wird mitunter überschätzt. Oder Formeln zur Berechnung von Risiken sind für eine Priorisierung und Lenkung der begrenzten Ressourcen zur Abwehr nicht geeignet. Zumindest erlauben die zur Manuskriptabgabe gelösten 160 Fälle, mittels „Statistik light“ Charakteristiken des modus operandi von Tätergruppen zu kategorisieren.

Daher will dieser etwas andere Praxisleitfaden nicht bestehende unterstützende Dokumente zur Einführung eines Prozessstandards ersetzen, auch wenn es ein Kapitel zum Umgang mit Standards gibt. Vielmehr versteht sich die vorliegende Publikation als eine kohärente, nicht plagiierende Praxissammlung komplementärer Informationen und Taktiken in der Lebensmittelsicherheit abseits der ausgetretenen Pfade, mit der man bestehende Systeme kritisch hinterfragt, Lücken und Betriebsblindheit beseitigt und mit ressourcenschonenden Anpassungen in betrieblichen Abläufen zu einem unangenehm beweglichen Ziel für Food-Fraud-Täter wird.

Der Autor dankt dem Verlag für den Mut, dieses unkonventionelle Werk in das Programm aufnehmen zu wollen, und dem Lektorat für die sorgfältige Arbeit. Besonderer Dank gilt Frau Elisa Halilovic für ihre kontinuierliche Unterstützung, ihre Geduld und dem überaus angenehmen, kompetenten und ermutigenden Umgang, mit der sie wesentlich zum Entstehen dieses Praxisleitfadens beigetragen hat.

Hollenstedt und Changsha im August 2024

Dr. Andreas Müller Seitenwechsel